Norbert Wenzel
"Aus dem Leben der katholischen Pfarrgemeinde Schweidnitz seit dem Jahre 1945"
Zusammenbruch und Neuaufbau
(gekürzt von Horst Adler)
 
„Ich werde zunächst aus der Zeit vor dem Russeneinbruch und hierbei besonders von dem Schicksal unserer Filialgemeinde Bögendorf, deren Betreuung mir oblag, erzählen.
... Januar 1945: Schweidnitz und Umgebung ist voll von Flüchtlingen aus Oels und anderswoher. Auch unser Pfarrhaus ist eine große Herberge geworden, hat täglich sehr viele Gäste. Bald müssen die Oelser und alle Nicht-Schweidnitzer weiter. Der Feind rückt von Norden und Osten unserer Heimatstadt bedenklich nahe. An der plötzlich einsetzenden Fliegertätigkeit spüren wir den Ernst der Lage. Am Sonntag Mittag, dem 11. Februar, ist der erste Fliegerangriff auf unsere Stadt. Eine Bombe ... trifft unser Pfarrhaus. Die ersten Toten sind zu beklagen, darunter ein Mädchen unserer Pfarrjugend, Adelheid Stark, die noch am Vormittag bei mir in Bögendorf zum Gottesdienst war.
... In den nächsten Tagen weiterer Fliegerbeschuß. Die Menschen strömen in die Bunker oder aufs Land. Am 17.2. ist ein für unsere Begriffe schwerer Angriff. Daraufhin bekommt ganz Schweidnitz von der deutschen Militärbehörde den Evakuierungsbefehl. Schweidnitz wird Frontstadt. Die Bevölkerung begibt sich zum Teil in die Auffanggebiete Braunau und Komotau, von wo aus es weitergeht. Ich selbst bin in Bögendorf und stehe meiner Lokaliegemeinde zur Verfügung. Herr Pfarrer aber bleibt als treuer Hirte seiner Kirche und derer, die noch in der Stadt bleiben müssen oder trotz Zwang nicht hinausgehen, in Schweidnitz. Am 22. Februar 1945 früh um 10 Uhr, trifft uns in Bögendorf die Ausweisung. Befehl: Niederbögendorf bereitmachen zum Abzug um 14 Uhr. Die Leute rüsten in fieberhafter Eile. Ich nehme noch schnell per Telefon Abschied von Herrn Pfarrer. Dann begleite ich unsere Leute bis zum ersten Nachtquartier und fahre abends mit meinem Rad noch einmal zurück. Am nächsten Morgen werde ich vom Ortsvorsteher mit scharfen Worten ausgewiesen. Ich begleite nun unseren Treck weiter. Es geht über Weißstein bei Waldenburg – Grüssau – Schömberg (z.T. auch über Friedland) bis Parschnitz und Wellhotta bei Trautenau im Sudetenland. Hier bleiben wir für längere Zeit liegen. Die Ober-Bögendorfer werden erst eine Woche später ausgewiesen und kommen bis Seitendorf bei Altwasser. Ich selbst nehme Quartier in Wellhotta, von wo aus meine Rundfahrten in den kommenden Wochen gehen. Da der Treck lange liegt, fahre ich inzwischen zu den anderen Schweidnitzer Gruppen und nach Schweidnitz.
... Mitte März zersplittert unser Bögendorfer Treck. Ein kleiner Teil bleibt in Parschnitz, ein anderer Teil zieht weiter, wird dann in der Tschechei in mehrere Teile aufgelöst. Somit ist meine Aufgabe als Treck-Begleiter erfüllt, und es wird sinnvoller, in Wellhotta zu bleiben, um von hier aus die vielen einzelnen Gruppen der Bögendorfer und Schweidnitzer zu besuchen. Unvergeßlich ist mir der Osterbesuch bei den in der Tschechei aufgeteilten Niederbögendorfern. Sie liegen weit hinter Königgrätz in Halitz, Daschnitz, Comarau usw. Durch eine wirklich wunderartige Fügung finde ich diese Gruppen. Der Ostergottesdienst am 1. und 2. April ist in Daschnitz, wohin sie alle kommen, unsere Leute und viele andere Flüchtlinge. An den Taschentüchern, die sie während der Predigt an die Augen führen, erkennt man ihre große Anzahl.
... Noch einmal fahre ich dahin am 25. April. Als ich in den vorhin genannten Ortschaften ankomme, finde ich keines meiner „Schäflein“ mehr vor. Kein Mensch, keine Polizei, keine Treckleitstelle kann mir Auskunft geben, wo sie seien. Auch kein Telefongespräch bringt ein Ergebnis. Man weiß nur, daß unsere Leute den Befehl bekommen hatten, in Richtung Bayern loszugehen. Ich fahre sämtliche Haupttreckleitstraßen ab, komme tief hinein in die schöne Tschechei: nach Pardubitz, Przelouz, Hermannstättel, Tschaslau, Kolin usw., erlebe schrecklich ausgebombte Strecken. – aber ich finde niemanden. Inzwischen gärt es. Das Volk wird unruhig. Gleisstrecken werden durch Partisanen aufgerissen. Ich beschließe, die Suche aufzugeben und fahre am 28.4. in Richtung Wellhotta. Der Rückweg ist erlebnisreich, voller Aufregung und Gefährdung. Vier Wochen vorher war alles noch so friedlich gewesen, und jetzt erlebt man den Durchbruch des Hasses. Kaum bin ich in Wellhotta zurück, stoßen mich Bögendorfer um und klären mich auf. Sie hatten dem Befehl, der sie nach Westen wies, getrotzt. Sie fürchteten, dort nur in das Kampfgetümmel hineinzukommen. Sie sahen das Ende ja bevorstehen, sehnten sich nach der Heimat und brachen heimlich in Richtung nach dort auf. So sind sie nun wieder in der Nähe von Wolsdorf (oder Wölsdorf?). Und nach dem Zusammenbruch am 8. Mai gibt es kein Halten mehr. Da finden sie sich wieder in Wellhotta und Parschnitz ein, und bereits am Sonnabend, den 12. Mai, ziehen wir in Richtung Heimat. Am Sonntag, den 13. Mai, sind wir wieder daheim. Wie schon angedeutet, wurde Wellhotta mein „Hauptquartier“. Gern und oft kommen unsre Jugendlichen nach hier, die in Friedland und Neurode einquartiert sind. Immer sind es kostbare gemeinsame Stunden mit ernsten und heiteren Gesprächen, frischen Liedern und fröhlichen Wanderungen. Auch die Katholiken des idyllisch gelegenen Gebirgsdorfes haben etwas davon. Sie waren dort religiös nicht gut versorgt, erleben nun zum ersten Male lebendige katholische Jugend, erleben zum ersten Male lebendigen Gottesdienst, Gemeinschaftsmesse, Meßerklärungen – sie sind so dankbar dafür. Von Wellhotta aus besuche ich am 1. März zum ersten Male die Schweidnitzer Gruppe in Friedland. Früh Gemeinschaftsmesse bei den „Grauen Schwestern“, nachmittags eine der fröhlichsten Zusammenkünfte, die wir je hatten. Ähnliches erleben wir in Neurode am 10. (evt. 19.?) März. Am 13. geht’s zum ersten Male wieder nach Schweidnitz. Es kommen mit Irmgard Falke, Ursel Lindner, Hanne Rother. Wie hat sich Herr Pfarrer gefreut! Und unsere Freude, ieder einmal bei ihm und in der Heimat zu sein, war nicht minder groß. ... Seither entwickelte es sich so, daß ich etwa alle 14 Tage zum Herrn Pfarrer fahre und ihm Nachricht von unseren Gruppen aus Neurode, Friedland, Sudetneland, Tschechei bringe und umgekehrt dann von ihm und der Heimat Nachricht an diese mitnehme.
... /Pfarrer Puzik betreut inzwischen in den 14tägigen Intervallen auch die in Bögendorf zurückgebliebenen Gläubigen mit/. ... Und dann kamen die Tage des Zusammenbruches. Am 4. Mai fuhr ich nach Bögendorf, feierte dort die Silberhochzeit von Herrn und Frau Geflitter.
... Sonnabend, den 5. Mai, stoße ich mit dem Rad noch bis zum Zobtenberg (Klein-Wierau) vor. Unsere Bauern arbeiten trotz der Frontnähe in völliger Ruhe auf den Feldern. Kein Zeichen des nahen Endes ist dort spürbar. Aber schon am 6. Mai ist’s ganz anders. Es kommt der Räumungsbefehl für ganz Niederschlesien.
... Am Montag, den 7. Mai, verlasse ich am frühen Morgen Schweidnitz, freilich ohne Herrn Pfarrer meine ungehorsame Absicht zu verraten, bald wiederzukommen. Ich fahre nur bis Wellhotta, um von dort aus bereits am 12. Mai mit meinen Bögendorfern wieder in Richtung Heimat aufzubrechen. Trostlos ist das Bild der Straßen und Dörfer, durch die wir ziehen. Immer wieder kommen einem die Worte in den Sinn: ‚Mit Mann und Roß und Wagen hat sie der Herr geschlagen’. Am 13.5. sind wir daheim.“
 

Anmerkung:
Der obige, leicht gekürzte Text stammt aus einem über 100 Seiten umfassenden, noch ungedruckten Typoskript, das Pfarrer Norbert Wenzel 1950 zusammenstellte. Darin kommt eine ganze Reihe von Akteuren mit ihren Erinnerungen aus der schweren Zeit der deutschen katholischen Pfarrgemeinde nach 1945 bis zur endgültigen Vertreibung zu Wort. Hier beschränke ich mich auf die Erlebnisse des damaligen Kaplans an der Pfarrkirche, Norbert Wenzel, der die Filialkirche in Bögendorf betreute.

Zur Biographie des Verfassers:
Letzte deutsche Kapläne vor der Vertreibung sind Norbert Wenzel (* 3.2.1913 Polkwitz, Weihe 20.7.1939, seit November 1939 Schloßkaplan bei Graf Henckel von Donnersmark und Lokalist in Grambschütz Krs. Namslau, seit September 1942 Pfarrvikar von Briesnitz bei Wartha) und Herbert Hoffmann (* 10.1.1911 Wittgendorf Krs. Landeshut, Weihe 1939). Wenzel, seit November 1944 in der Nachfolge Naglers als Kaplan in Schweidnitz und Lokalist in Bögendorf, leitet in der Polenzeit ins besonders die Jugendarbeit. Von ihm stammt das Lied "Wir sind die letzten der Heimat" und ein bisher ungedruckter Sammelband über die Geschichte der Pfarrei von 1945-1947. Er wird am 1.5.1947 aus Schweidnitz ausgewiesen. - Im August 1947 ist er Kaplan in Jena, im Juni 1948 Vikar in Ohrdruf. Im Dezember 1955 erhält er einen Lehrauftrag für den Unterricht in seelsorglichen Fragen am Seminar für Seelsorgehilfe und Caritas in Erfurt, im Dezember 1959 den Titel Pfarrer. Im Februar 1960 übernimmt er die Seelsorge in Stotternheim bei Erfurt und über pfarrliche Aufgaben, im Mai 1962 die Leitung des "Officium catechisticum". Im Mai 1965 aus gesundheitlichen Gründen im Ruhestand, lebt er seit 8.11. desselben Jahres in West-Berlin, wo er in der Krankenhausseelsorge tätig war. 1989 wurde ihm der Titel Geistlicher Rat verliehen. Er starb am 11.4.1995.
Horst Adler